Nicht nur Worte
Zu den Arbeiten von Karl H. Thiel

Was dann also, wenn nicht nur Worte?
Schauen wir auf die Bilder und in die Bücher, dann erschließt sich uns ein ganzer Kosmos. Der Text bzw. die Textur verweist als Begriff auf eine Materialität, auf das Gewebte, das Gewirkte, das sprachliche "Geflecht". KHT bringt im linearen Gefüge von Schriftzeichen, die mit Farbe unter- und überlegt sind, uns Zeile um Zeile vor Augen. Zarte Farbgebilde sind es, in kraftvoller Konsistenz schwingend nebeneinander, sie sind überschrieben, getextet gleichsam mit Schriftzeichen, doch welchen Inhalts? Im Medium des Bildes bzw. des Buches sind Linie und Farbe gleichwertig, verbinden sich, um dann doch je eigenständig gegeneinander zu stehen.
Das ZugReiseBuch … im Medium inkorporiert ist Seite um Seite, Gleiskilometer um Gleiskilometer, Bahnstation um Bahnstation hintereinander gebracht. Gibt es also einen Anfang ein Ende?
Es ist ein Zeitkontinuum, dem der Ortswechsel zugrunde zu liegen scheint. Doch das schlichte Hin- und Zurück, auf das die Rückfahrkarte verweist, wird von drängenden Mitreisenden mitbestimmt. Der räumlichen Bewegung des Zuges wird die handelnde Bewegtheit der Reisebegleiter addiert, diese Impulse werden in der linearen Textur des ZugReiseBuchs in Zeichen übersetzt. Unsere eigene Reiseerfahrung hastig aufmerksamer Unruhe wird in der Lektüre mitgedacht, wir brauchen dazu keinen weiteren Ortswechsel.
Ein anderes Medium ist ihm das Atelierbuch. Wie wir das von einem Buch erwarten dürfen, arbeitet er hier mit Titeln, gleichsam Kapitelfolgen, mit dem Datum wird es zum Diarium, auf dem vorbehandelten Papier entstehen Collagen, wiederum übermalt. Das geöffnete Buch offenbart uns das gleichsam emblematische Zusammendenken von Motto und Bild. Ich nenne ein Beispiel mit dem Zitat eines Buchtitels: "Meine Wurzeln sind anderswo" – dazu sehen wir einen Stadtplanausschnitt mit dem Geäst großer und kleiner Straßen, Wege, den Flußlauf, ein Hafenbecken. Wie bei Emblemata der frühen Neuzeit ist der Zugang meditativ gedacht.
Nun zu den Gedankenbüchern von KHT, wie verhält es sich hiermit? Erstmals 2008 begonnen, wird seine Bücherwelt farbig, nicht in Collagen sondern in Malerei. Das aufgeschlagene Buch hat zwei Seiten, ihm werden diese teils zum Diptychon. Manche stehen allein für sich, andere sind komplementär aufgefasst. Verschiedentlich wird die Doppelseite auch einheitlich, Schicht um Schicht nuanciert. Das Gedankenbuch ist auch, wie das Atelierbuch, nicht in der gedrängten Dichte des ZugReiseBuchs entstanden: die jeweiligen Seiten mussten zunächst trocknen, sie stehen für sich. Die Arbeit am Buch wird hier, wie bei den Gemälden, stehend erbracht, obwohl wir doch mit Büchern zugleich bequemes Sitzen assoziieren.
Im Atelier sind auch die Gemälde entstanden. Die ruhige kompositorische Gestaltung der Gedankenbücher setzt sich in ihnen fort. Unvermittelt begegnen wir auf diesen Gemälden dem spielerisch übersetzten Umgang mit dem Format, auch die Elemente der Zeichen und Zahlen tauchen aus den Farbtiefen empor: der ausgewogene Zusammenklang dieser Zeichen, also der Linien, mit den Farben, also mit den Formen, schwingt vom Anfang, wird unterbrochen, nach neuen Eingriffen, auch mit Radiernadel und weiteren Pinselaufträgen, wischenden Abnahmen, kommt schließlich ein Abschluss. Die zweidimensionale Vorgabe wandelt KHT dabei auch zu farbräumlicher Tiefe, die zu ergründen dem Leser, dem Betrachter überlassen bleibt.
Leiten die ZugReiseBücher, die Atelier- und Gedankenbücher nun zum Dechiffrieren der Gemälde von KHT an?
Seine Bilder sind mit den im westlichen Kulturkreis bekannten kalligraphischen Kürzeln von Buchstaben- und Zahlzeichen versehen, formelhaften Gebilden aus der Wissenschaft zum Teil, unsrer Kommunikation eigentümlich. Die lichten Farbnuancen der Gemälde changieren in gleicher Weise wie in den Künstlerbüchern. In Öl gelöst erhalten die Farben ihre Transparenz. Die ungleich größere Fläche der Gemälde jedoch ist auf anderes Hantieren ausgelegt. Spontan folgt die erste Geste dem Gedanken zum Farb konzept und legt den Grund für die weiteren Be- und Überarbeitungen. Die Hängung der Bilder gewährt uns, sie simultan zu schauen, im Ganzen. Gleichwohl sind unsere Sehgewohnheiten ausgelegt, mit den Augen durch das Gemälde zu wandern, wir folgen den Farbspuren, kombinieren die Zeichen, manchmal lesen wir – nicht nur, aber auch Worte.
Karl H. Thiels Ausstellungstitel sind stets die konzeptuellen Schlüsselworte für seine Werke: "Zeichen setzen", "Nahtstellen" und "Schriftsätze", an ihnen erkennen wir die Kontinuität dessen, was ihn umtreibt, besser, was ihn antreibt.
DR. PETRA SCHMIED-HARTMANN, Kunsthistorikerin, Frankfurt am Main (Auszug)



Ganz zweifellos fest in der Tradition der ungegenständlichen Malerei verwurzelt ist Karl H. Thiel. … Denn die Bilderserie … bringt statt der Figuren von Mensch und Tier, Haus und Baum jene anderen Figuren ins Geviert, die wir erfunden haben und kontinuierlich weiter erfinden, um mit ihnen nicht-mündliche Kommunikation zu treiben: Buchstaben, Wortgebilde, Zeilenblöcke, Schrift, Text, aufgemischt jedoch immer wieder mit Zeichen und Formeln von der Art, wie ein Physiklehrer sie an die Schultafel schreibt oder ein Sprayer sie in der Unterführung hinterläßt.
Thiel führt uns gezielt in ein Dilemma. Schon sein Schriftträger ist nicht neutral, sondern angelegt als rudimentäres Gemälde. Seine Einzelzeichen und Zeilen wiederum, die er mit spitzem Bleistift in die noch feuchte Farbe einpflügt oder mit Ölstift breit und markant obenaufsetzt, halten Handschriftlichkeit höher als Leserlichkeit. Wodurch wir oft meinen, endlich einen Anfang entziffern zu können, dann aber bald klein beigeben müssen, weil die Schrift sich verselbständigt. Wahrhaft autonom, gilt ihr Angebot an Information und Kommunikation eben nicht dem rationalen Verstand, sondern unserem Sinn für die ästhetischen Reize von Farbe und Relief, Duktus und Überlagerung, Kalligraphie und purer Bewegung. Nichts tilgt sich hier, alles steigert sich gegenseitig. Freilich gilt, wie Thiel selber zu seiner laufenden Werkserie anmerkt: "Die Funktionalität der Schrift als Informationsträger ist gestört. … Die Schrift ist nicht untergeordnetes Element, … Schrift wird Bild. Diese Sprachsegmentierungen erscheinen als unbekannte, moderne Sprachhieroglyphen." Ähnlichkeiten mit den Schriftsystemen außereuropäischer Völker sehen wir auf eigene Gefahr hinein.
DR. ROLAND HELD, Kunstkritiker, Darmstadt (Auszug)



Die Beschreibungen und Farb-Licht-Flüsse, Flüchtiges und Beständiges seiner Visionen geben sich mal federleicht, per Trippelschritt bewegt durch Gefühlssenken, dann wieder spröde, gestisch, ungefiltert, voller deftiger Akzente. Karl H. Thiel arbeitet zyklisch. Jedem Zyklus geht ein innerer Monolog bzw. eine meditative Vorbereitung vorraus. Expressivität wird durch einen geistigen, zumindest vorab geklärten Brückenschlag gehalten, auch wenn Pinsel und Hände sich scheinbar ganz ungebunden und unaufgefordert durch Farbe und Seelengewänder wühlen.
CHRISTOPH TANNERT, Künstlerhaus Bethanien, Berlin (Auszug)



Seine Werke auf Papier und Leinwand sind dem kunstinteressierten Betrachter in ihrer Thematik scheinbar vertraut. Spätestens seit dem Informell der fünfziger Jahre wissen wir, mit spontanen Notationen und Texturen des Ungegenständlichen umzugehen. Und doch sind diese Bilder von Karl H. Thiel wieder völlig neu, sie sind ungesehen und in ihrem Anspruch autonom. Entscheidend ist, dass diese Werke ein ganz eigenes Leben entwickeln, dass ihr Vorhandensein uns nicht zur Tagesordnung übergehen lässt. Was da auf der Fläche und dann in unseren Köpfen entsteht, ist eine höchst aufregende Bildsprache. Die Farb- und Materialzusammenführungen rufen genau jenen Störfall hervor, der uns Kunst zum Lebenselexier machen kann.
Häufig verwendet Karl H. Thiel in seinen Bildern untypische Materialien. Saugfähige Wischpapiere, die getränkt und auf die Leinwand geklebt werden, Zeitungsausrisse, Gewebe oder Folien. Anders als bei den Zeichnungen, die spontan und schnell entstehen, benötigt der Schichtenaufbau der Leinwände immer wieder lange Trocknungszeiten von ein bis zwei Tagen.
So entstehen Liniengerüste, Reliefs und Strukturen, die den Arbeiten eine räumliche Oberfläche verleihen. Auf diesen Ebenen wird die Farbe in ganz unterschiedlicher Manier aufgetragen, häufig entsteht sie aber auch direkt aus den gebleichten und ungebleichten Papieren.
Papiermaterial und Farben verbinden sich zu Kompositionen von großer Dichte, die nicht zuletzt durch eine immer wieder erscheinende Transparenz hervortreten. Die Bilder von Karl H. Thiel sind eruptiv und leidenschaftlich, und doch erscheinen sie vor der Folie einer großen Gefasstheit. Mit ihnen kann, ja muss man leben, mit ihnen muss man sich immer wieder auseinandersetzen.
Odo Marquard hat einmal gesagt: "Kunst ist der Versuch, sich selbst aushaltbar zu machen."
DR. KLAUS KLEMP, Design- und Kunsthistoriker, Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt am Main (Auszug)